
Warum wir gerade jetzt May Ayim lesen sollten

In unserem Studiengang befassen wir uns vor allem mit den drei Themengebieten Literatur, Sprache und Kultur und setzen den Schwerpunkt in der Literatur auf sogenannte interkulturelle Literatur, also Literatur von Autor*innen, die u.a. über Migration, Kulturbegegnungen, Alteritätserfahrungen und Sprachwechsel schreiben. Interkulturelle Literatur ist leider bisher im Deutschunterricht unterrepräsentiert, obwohl sie gerade angesichts der zunehmend heterogenen und diversen Gesellschaft Möglichkeiten des Perspektivwechsels, der Reflexion und der Identifikation bietet und damit zum interkulturellen Lernen und der Empathieentwicklung beiträgt. Dass dieser Perspektivwechsel dringend nötig ist, hat ein verstörendes Ereignis letztes Wochenende gezeigt.
In unseren Social-Media-Kanälen teilen wir häufig Bilder, Zitate und Informationen zu deutschsprachigen Autor*innen. Am letzten Samstag teilten wir angesichts der derzeitigen internationalen Rassismusdebatte das obige Bild von May Ayim, einer deutschen Lyrikerin deutsch-ghanaischer Herkunft, mit dem folgenden Zitat:
rassimus bleibt
bleiches gesicht einer krankheit
die uns heimlich und öffentlich auffrißt
Dies ist die letzte Strophe eines Gedichts, das May Ayim zum Tod von Audre Lorde, einer US-amerikanischen Schriftstellerin und Aktivistin, geschrieben hatte. Hier ist das ganze Gedicht:
Soulsisters
Abschiednehmen
von einer
die bereits gegangen ist
für immer
Erinnerungsmomente und Gedächtnislücken
bleiben
lebendig beweglich
uns überlassen
ich denke und sage
meine persönliche Wahrheit
AUDRE LORDE lebte
ein gesundes
widerständiges
schwarzes
lesbisches
Leben
in einer kranken Gesellschaft
auf einem sterbenden Planeten
sie starb nach 58 Jahren
einen gewöhnlichen Tod
Diagnose Krebs
ihr Wirken lebt weiter
in ihren Werken
unsere Visionen
tragen Erfahrung
ihre Worte
Erinnerung
1984 prägten schwarze deutsche Frauen
gemeinsam mit AUDRE LORDE
den Begriff Afro Deutsch
da wir viele Bezeichnungen hatten
die nicht unsere waren
da wir keinen Namen kannten
bei dem wir uns nennen wollten
Rassismus bleibt
bleiches Gesicht einer Krankheit
die uns Heimlich und öffentlich auffrisst
heute
wir betrauern den Tod einer großen schwarzen Dichterin
einer Schwester, Freundin und Kampfgefährtin
ihr Wirken lebt weiter
in ihren Werken
unsere Visionen
tragen Erfahrung
ihre Worte
Erinnerung
Wir teilten dieses Bild ebenso wie die Bilder von Autor*innen in verschiedenen Facebook-Gruppen, die sich mit deutscher Sprache und/oder deutscher Literatur befassen und fügten an: “Afrodeutsche Literatur ist aktueller denn je”. Während dieser Post überwiegend auf positive Reaktionen stieß, gab es in einer Gruppe eine nicht geringe Anzahl von Kommentierenden, die meinten "eine deutsche farbige Dichterin" könne es nicht geben und May Ayim sei, trotz der Tatsachen, dass sie als Sylvia Andler von einer deutschen Mutter in Deutschland geboren wurde, in einer deutschen Familie aufwuchs und Deutsch als Muttersprache hatte, aufgrund ihrer Hautfarbe nicht “genetisch Deutsch”. Im gleichen Zug wurde ihrem Werk jeglicher literarästhetischer Wert abgesprochen: das habe nichts mit “deutscher Literatur” zu tun. Diese Kommentierenden fühlten sich durch die Metapher des “bleichen Gesichts dieser Krankheit” persönlich angegriffen und empfanden dies als generellen Rassismus gegenüber Weißen. Dabei erklärt May Ayim in ihrem Gedicht: “ich denke und sage / meine persönliche Wahrheit”. Die eigene Rassismus-Erfahrung der Autorin wurde nicht anerkannt und Rassismus gegenüber nicht-weißen Menschen bagatellisiert. Ferner wurde der Kommentarbereich genutzt, um sich über "illegale Ausländer" und "Moslems" auszulassen, die "hier nichts zu suchen" hätten, denn das Land hieße ja "Deutschland". Damit haben die Kommentierenden aber gerade bewiesen, dass Rassismus auch in Deutschland tatsächlich noch ein hochaktuelles Thema ist und es dringend nötig ist, dass Stimmen von Menschen mit Rassismus-Erfahrung gehört werden. Daher bleiben wir dabei: Afrodeutsche Literatur ist aktueller denn je! Und wir lassen May Ayim antworten mit einem Gedicht, dass sie 1990 anlässlich der Wiedervereinigung schrieb:
grenzenlos und unverschämt – ein gedicht gegen die deutsch sch-einheit
ich werde trotzdem afrikanisch sein auch wenn ihr mich gerne deutsch haben wollt und werde trotzdem deutsch sein auch wenn euch meine schwärze nicht paßt ich werde noch einen schritt weitergehen bis an den äußersten rand wo meine schwestern sind wo meine brüder stehen wo unsere FREIHEIT beginnt ich werde noch einen schritt weitergehen und noch einen schritt weiter und wiederkehren wann ich will wenn ich will grenzenlos und unverschämt bleiben